Wenn der Blickwinkel nicht mehr stimmt...
Die ideologisch bestimmte „Säuberung" deutscher Städte und insgesamt unserer Überlieferung
Von Wolfgang Reith

Man reibt sich die Augen: Da hat doch der Kölner Stadtrat vor kurzem tatsächlich die vor rund 400 Jahren abgehaltenen Hexenprozesse einmütig verurteilt und die Opfer „moralisch rehabilitiert". Zudem wurde die katholische Kirche aufgerufen, sich von den damaligen Hexenverfolgungen und Hinrichtungen zu distanzieren. Auch in anderen rheinischen Städten wie etwa Düsseldorf und Neuß gab es ähnliche Ratsbeschlüsse und sogar Bürgeranträge, in denen gefordert wurde, öffentlich der seinerzeit gefolterten und verbrannten „Hexen" zu gedenken (z.B. im Rahmen von Schweigeminuten), ihnen Gedenktafeln zu widmen oder sogar Straßen nach den Opfern zu benennen. Einer der Antragsteller drückte es so aus: „Es geht mir um sozialethische Rehabilitation.

Man könnte nun fragen, ob die Stadträte keine aktuelleren Probleme zu bewältigen haben als historische Tatbestände, die man im Nachhinein ohnehin nicht ändern kann, zu „korrigieren". Nein, dahinter steht vielmehr ein gewandeltes Verständnis von Geschichte, nämlich Ereignisse der Vergangenheit mit Maßstäben der Gegenwart zu bewerten. Allerdings scheint sich diese abstruse, ja völlig ahistorische Sichtweise auf Deutschland zu beschränken; denn in anderen Staaten kommt man nicht auf die Idee, die eigene Geschichte umzudeuten, umzuschreiben oder gar für begangenes Unrecht um Vergebung zu bitten. So entschuldigte sich beispielsweise bei der UN-Konferenz gegen Rassismus in Durban im Jahre 2001 der damalige deutsche Außenminister Fischer für die Verbrechen der deutschen Kolonialpolitik, was insofern eigenartig anmutete, weil das Deutsche Reich nur rund 30 Jahre lang eigene Kolonien besaß, wohingegen klassische Kolonialmächte wie Großbritannien, Frankreich, Spanien und Portugal, die fast ein halbes Jahrtausend überseeische Territorien ihr Eigen nannten, nicht im Traum daran denken würden, eine Neubewertung dieses Teils ihrer Geschichte vorzunehmen.

Als sich Anfang 2012 der Geburtstag Friedrichs des Großen zum 300. Male jährte, wurde dieses Ereignis in vielen Medien mit kritischen und zum Teil negativen Untertönen thematisiert, und selbst Bundespräsident Wulff stimmte in diesen Chor ein: Der preußische König — in der Berichterstattung meist bewußt nur als Friedrich II. bezeichnet — sei keineswegs ein Vorbild, habe er doch willkürlich Kriege angezettelt und so Tausende von Menschenleben auf dem Gewissen. Kaum ein Wort hingegen von den kulturellen Leistungen jener Zeit auf den Gebieten der Kunst und der Wissenschaft, von der Trockenlegung der Sumpflandschaft und der Neusiedlung im Oderbruch, von der Religionsfreiheit und dem aufklärerischen Geist Preußens, der sich etwa in dem Satz des großen Friedrich manifestierte: „Jeder soll nach seiner Facon glücklich werden." Stattdessen erneut die Reduzierung Preußens als des seinerzeit unzweifelhaft liberalsten aller europäischen Mächte auf einen angeblich allumfassenden gesellschaftlichen Militarismus!

Im Jahr 2017 wird man vor allem in Deutschland das 500jährige Jubiläum der Reformation begehen. Die Vorbereitungen dafür liegen in den Händen der ehemaligen hannoverschen Landesbischöfin und Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Margot Käßmann, die schon heute „politisch korrekt" Luthers kritische Haltung gegenüber dem Judentum als „belastendes Erbe" bezeichnet und zugleich betont, er sei auch „kein großes Beispiel für Toleranz etwa gegenüber dem Islam" gewesen. Völlig unberücksichtigt dabei bleibt, daß Luther seine Vorbehalte zu einer Zeit äußerte, die von gänzlich anderen Werten geprägt war. Dennoch hält die „EKD-Botschafterin für das Reformationsjubiläum 2017" (so ihre offizielle Funktionsbezeichnung), Käßmann, bereits die gesamte Reformation wegen ihrer Abgrenzung zum Katholizismus für „erst einmal nicht tolerant".

Was aber wird Frau Käßmann erst zu der Predigt Martin Luthers sagen, die er am 25. November 1537 über Matthäus 25, Verse 31-46 hielt und die durchaus in unsere Tage passen könnte: „... wenn der Jüngste Tag nicht kommt, so wird doch der Türke bald kommen und so mit uns umgehen, daß wir sagen werden: Hier war einmal Deutschland." Dann wird Luther vielleicht zum „Rassisten" oder „Rechtspopulisten" abgestempelt oder – wie es kürzlich ein evangelischer Pfarrer angesichts genau jener Predigt tat – zu einem „Vordenker Sarrazins".

Wie sehr an historische Begebenheiten immer wieder die Meßlatte gegenwärtig gültiger Ethik- und Moralvorstellungen angelegt wird, zeigt sich schließlich an den in letzter Zeit geradezu inflationär zunehmenden Straßenumbenennungs-Kampagnen. So erhielten in etlichen Städten die nach Hindenburg benannten Straßen und Plätze neue Namen mit der Begründung, er habe Hitler zum Reichskanzler ernannt (ein nach der Weimarer Verfassung völlig demokratischer Vorgang). Da hilft auch wenig der Einwand, die besagten Straßen und Plätze seien bereits lange vor 1933 nach Hindenburg benannt worden und zwar für die gewonnene Schlacht bei Tannenberg 1914, mit der er Ostpreußen von den einmarschierten russischen Armeen befreite. Eine führende deutsche Tageszeitung urteilte dazu: „Wer Hindenburg entsorgt, entsorgt vor allem die Erinnerung daran, daß sich die Werte der Gesellschaft – auch einer demokratischen Gesellschaft – wandeln und daß man nicht immer so gedacht hat wie gerade jetzt." In Berlin wurde die Umbenennung der Treitschkestraße betrieben, weil diesem bedeutenden deutschen Historiker des 19. Jahrhunderts (fälschlicherweise!) der Satz „Die Juden sind unser Unglück" zugeschrieben wird. Die Gegner der Umbenennung argumentierten zu Recht, daß Straßennamen jedoch „nicht an Vorbilder aus heutiger Sicht erinnern, sondern an die Maßstäbe, die zur Zeit der Benennung galten und damit historisches Gedächtnis der Stadt sind". Wenn man im übrigen alle Personen aus dem Straßenbild tilgen wolle, die vor 1933 antisemitische Äußerungen von sich gegeben hätten, müßten auch Otto von Bismarck, Martin Luther, Thomas Mann, Karl Marx, Walter Rathenau und Richard Wagner verschwinden. Die Presse kommentierte dazu, Geschichte bestehe „eben nicht nur aus Leuten, die allen immer angenehm sind". Doch während auf der einen Seite Hindenburg „entsorgt" wird, benennt man zum selben Zeitpunkt in Berlin eine Brücke nach der Kommunistin Rosa Luxemburg mit der Begründung, es sei wichtig, an ihre Ermordung (1919) und den sich damals „schon andeutenden rechten Terror zu erinnern".

In der Tat waren solche Sichtweisen in den Geschichtsbüchern der DDR üblich, doch sie scheinen sich unter dem Einfluß linker Pädagogen seit der Vereinigung der beiden deutschen Staaten wieder auszubreiten und vor allem „gesellschaftsfähig" zu werden. Geschichte, insbesondere die deutsche, wird inzwischen fast ausschließlich aus dem Blickwinkel der momentan gültigen „Werte" gesehen, historische Abläufe mit sozialpsychologischen „Erkenntnissen" der Gegenwart bewertet. „Eine ganze Generation von Schülern", so hieß es dazu in einer Zeitungskolumne, „ist mit dem systematischen Rückschaufehler aufgewachsen, Geschichte von ihrem Ende her verstehen zu wollen", und „...das Gestern von der Höhe heutiger Moral zu beurteilen". Und an anderer Stelle wird ergänzt: „Wer den politischen Sauberkeitsansprüchen des 21. Jahrhunderts nicht standhält, landet auf dem Müllhaufen der Geschichte." Das jedoch sei wahrlich „kein Zeichen demokratischer Gesinnung", sondern zeuge vielmehr von einem „moralisch verkürzten Geschichtsverständnis" und belege „nur den Wunsch, geschichtslos zu sein. Dieser Wunsch aber ist — das hat George Orwell in ,1984' gezeigt — im Kern totalitär." Ein Grund mehr, endlich umzudenken und Geschichte auch in Deutschland wieder so zu sehen, wie sie nun einmal war und nicht, wie sie nach heutigen Vorstellungen hätte sein sollen.

Quellen:
Foto: Archivmaterial;
Text: Preußische Mitteilungen, Mai 2013, Nr. 209